Das Offene Archiv „Braunschweig – eine Stadt in Deutschland erinnert sich“ bietet in der Gedenkstätte Schillstraße eine ungewöhnliche Möglichkeit, sich über die Regionalgeschichte im Nationalsozialismus zu informieren. Die von der Künstlerin Sigrid Sigurdsson initiierte Sammlung ist inzwischen auf über hundert Kassetten angewachsen, die von vielen Mitwirkenden ausgestaltet wurden. So finden sich hier Ausarbeitungen von Schulklassen über die zur Erinnerung an jüdische Bürger verlegten „Stolpersteine“. Andere Kassetten machen auf vergessene Opfer wie den jungen Stadtverordneten Hermann Bode aufmerksam. Man findet Fotografien der jüdischen Familie Frenkel, die schon so lange in Braunschweig lebte, dass ihre polnische Herkunft für sie längst keine Rolle mehr spielte. Und weitere Aufzeichnungen erinnern an die Zeit des Bombenkriegs, als vielen „Volksgenossen“ erst bewusst wurde, worauf sie sich Jahre vorher eingelassen hatten.
Doch nicht nur die wachsende Sammlung des Offenen Archivs macht auf immer wieder neue Themen aufmerksam. Die Vorbereitung von Ausstellungen oder die Arbeit an pädagogischen Projekten in der Gedenkstätte führt oft zu unerwarteten Erkenntnissen.

In vier Veranstaltungen in den nächsten Monaten stellen wir Ihnen Neues vor. Über Ihr Interesse würden wir uns freuen.

Zbąszyń 1938 – Samstag, 3.3.2012, 15.00 Uhr
Eine Spurensuche zur Vorgeschichte der Novemberpogrome

Im Spiegel der Entschädigungsakten: Die NS-Verfolgung der Zeugen Jehovas.
– Samstag, 21.4.2012, 15.00 Uhr
Ein Vortrag von Reiner Lüdtke

Wege nach Israel – Donnerstag, 3.5.2012, 18.30 Uhr
Eine Begegnung mit Zeitzeugen und ihren Familien

Ausgrenzung, Beraubung und Emigration – die Familie Rosenbaum aus Schöppenstedt
– Donnerstag, 7.6.2012, 19.00 Uhr
Vortrag von Markus Gröchtemeier

Zbąszyń 1938 – Samstag, 3.3.2012, 15.00 Uhr
Eine Spurensuche zur Vorgeschichte der Novemberpogrome

Die Novemberpogrome von 1938 haben ihren festen Platz im öffentlichen Bewusstsein Deutschlands. Weit weniger bekannt ist ihre Vorgeschichte, die sogenannte „Polenaktion“ – die Deportation von 17.000 polnischen Juden aus Deutschland ins Niemandsland an der deutsch-polnischen Grenze. Unter diesen waren 69 Männer, Frauen und Kinder aus Braunschweig.
Der polnische Fotograf Wojciech Olejniczak und der in Drohobycz geborene israelische Fotograf Erwin Schenkelbach haben 70 Jahre später mit einer Installation unter dem Titel „Auf Wiedersehen nächstes Jahr in Jerusalem“ auf dem Bahnhof des damaligen Grenzstädtchens Zbąszyń an diese Vertreibungen erinnert. Bei ihrer Spurensuche stießen sie auf ein berührendes Zeugnis: Taschentücher, die mit Abschiedsgrüßen beschrieben waren – ein Andenken für ein Mädchen, das Zbąszyń verlassen und nach England emigrieren konnte: die 1922 in Braunschweig geborene Lotte Frenkel.

Wojciech Olejniczak und Agnieszka Juraszczyk von der Stiftung TRES (Zbąszyń) möchten das Projekt „Auf Wiedersehen nächstes Jahr in Jerusalem“ vorstellen, zu dem mittlerweile – neben der Installation – auch ein Film und eine umfangreiche Publikation gehören (www.zbaszyn1938.pl).

Im Spiegel der Entschädigungsakten: Die NS-Verfolgung der Zeugen Jehovas.
– Samstag, 21.4.2012, 15.00 Uhr
Ein Vortrag von Reiner Lüdtke

Die in den Archiven zugänglichen Akten der Entschädigungsbehörden sind ein aufschlussreicher Bestand, um die Verfolgung in der Zeit der NS-Diktatur besser beschreiben zu können. Auch die Zeugen Jehovas, die als Religionsgemeinschaft dem NS-Staat die geforderte Anerkennung verweigerten und deren Angehörige deshalb zu Gefängnisstrafen verurteilt und in Konzentrationslager verschleppt wurden, haben nach Kriegsende versucht, Ansprüche auf Entschädigung für die erlittenen Haftstrafen, für die verlorene Gesundheit, für unterbliebenes berufliches Fortkommen zu erstreiten. Die vorhandenen Akten geben nicht nur Einblicke in die langjährige erbarmungslose NS-Verfolgung, sondern zeigen auch den zähen Kampf um eine Wiedergutmachung, auf die viele, als Flüchtlinge mittellos in Ostniedersachsen angekommen, besonders angewiesen waren. Reiner Lüdtke berichtet über sein Studium der Behördenakten.

Wege nach Israel – Donnerstag, 3.5.2012, 18.30 Uhr
Eine Begegnung mit Zeitzeugen und ihren Familien

Viele Überlebende des Holocaust verließen Europa in den Nachkriegsjahren, um ein neues Leben in einer neuen Heimat, in Israel zu beginnen. Im Herbst 2010 zeigten wir in der Gedenkstätte die Ausstellung „Wege nach Israel – sechs Überlebende des Holocaust erinnern sich“. Sie veranschaulichte die mehrjährige Reise sechs früherer Häftlinge des Lagers Schillstraße in der Nachkriegszeit nach Palästina. Im Mai 2012 wird die Ausstellung erneut in den Gedenkstätten Wöbbelin bei Schwerin, dem Ort der Befreiung der Schillstraßen-Häftlinge gezeigt.
Izhak Kaufmann und Josef Neuhaus, zwei der in Israel für die Ausstellung befragten Zeitzeugen, beabsichtigen deshalb, in Begleitung ihrer Familien nach Deutschland zu kommen. In der Gedenkstätte besteht die Möglichkeit zum Kennenlernen und zum Gespräch.

Ausgrenzung, Beraubung und Emigration – die Familie Rosenbaum aus Schöppenstedt
– Donnerstag, 7.6.2012, 19.00 Uhr
Vortrag von Markus Gröchtemeier

Die Familie des jüdischen Viehhändlers David Rosenbaum gehörte in den 1920er Jahren zum angesehenen und wohlhabenden Bürgertum in Schöppenstedt. 1933 begannen die Nationalsozialsten die gesellschaftliche Ausgrenzung der Familie und ihre Verdrängung aus der lokalen Wirtschaft, die nach dem Novemberpogrom in eine behördlich betriebene Beraubung des Rosenbaumschen Vermögens einmündete. Nur mit wenigen Koffern gelang der Familie im August 1941 die Emigration nach Amerika.
Die in den Archiven heute zugänglichen Behördenakten machen es möglich, diesen Prozess detailliert nachzuvollziehen. Markus Gröchtemeier stellt das auch für die Bildungsarbeit aufschlussreiche Quellenmaterial vor.