Am Montag, 6. Dezember 2021, 17.00 Uhr, anmelden unter Mail: andere_geschichte_braunschweig@t-online.de oder Tel.: 0531 18957

Dr. Uwe Spiekermann: Ein anderes Leben wagen. Braunschweig 1966-1973

Eine Geschichtswerkstatt wie der Arbeitskreis Andere Geschichte will die Erfahrungen der arbeitenden Menschen untersuchen und ihnen öffentliches Gehör verschaffen. Nach der Gründung 1985 standen die Arbeiterbewegung, die NS-Geschichte, die Verfolgung von Juden und anderer Minderheiten im Mittelpunkt einer unverzichtbaren, lange zurückgestauten Aufarbeitung. So gelang es nicht nur, gängige gutbürgerliche Geschichtsbilder in Frage zu stellen, sondern selbstkritisches Geschichtsdenken weit über den Arbeitskreis hinaus zu verankern. Die Gedenkstätte Schillstraße ist Folge dieses Erfolgs.


Eine Geschichtswerkstatt wie der Arbeitskreis Andere Geschichte kann dabei allerdings nicht stehenbleiben. Es gilt, über die Geschichte der Großeltern und Eltern hinauszugehen und wieder dort anzusetzen, wo wir nicht vorrangig mit tradierten Quellen arbeiten, sondern ebenfalls mit den Erinnerungen und Zeugnissen auch noch lebender Zeitzeugen. Die frühere Ausstellung über Braunschweig in den 1950er Jahren hat diesen Weg vor fast zwei Jahrzehnten erfolgreich beschritten, die zahlreichen Interviews und hunderte von privaten Fotos sind bis heute noch nicht vollständig ausgewertet.
In einer vor Pandemiebeginn einsetzenden Ideenwerkstatt haben zahlreiche Mitglieder überlegt, wie wir als Geschichtswerkstatt weiter vorgehen können, was wir durch die Fackel der Aufklärung erhellen wollen. Vieles wurde vorgeschlagen und abgewogen, Themen die Lust machten, nachzubohren und aufzuarbeiten. Da war die gebrochene Demokratisierung vom Kriegsende bis zu den sozialliberalen Reformen: Braunschweig war schon in den 1950er Jahren eine gärende Metropole, in der um neue Rechte gerungen wurden, in der die Wiederbewaffnung umstritten war, die Verbrechen der NS-Zeit auch geahndet werden sollten und Gewerkschaften, Frauen und zahlreiche Initiativen den Protest auf die Straßen brachten. Da war der rasche industrielle Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg mit raschen Wachstum und wachsendem Wohlstand. Doch Braunschweigs tradierte Wirtschaftsstruktur führte früher als in anderen Regionen zu Krisen und Stockungen, dann auch zu einer breiten Deindustrialisierung, durch die zehntausende von Arbeitsplätzen verloren gingen, durch die Arbeits- und Lebenszuschnitte stärker verändert wurden als in den meisten anderen Regionen Westdeutschlands. Da war auch der Mitte des Jahrhunderts einsetzende tiefgreifende Wandel der Bevölkerung, der Einwohnerschaft: Zwangsarbeiter gingen großenteils, Vertriebene, Flüchtlinge und Übersiedler kamen, dann auch die keineswegs freundlich begrüßten „Gastarbeiter“. Demokratisierung, Deindustrialisierung und Migration haben Braunschweig geprägt und verändert – doch wir konnten uns nicht recht entscheiden, welche dieser auch miteinander verwobenen Themen wir mit voller Kraft angehen wollten.
Entsprechend schlagen wir ein anderes Vorgehen vor. „Dig were you stand“, hieß es bei den frühen Geschichtswerkstätten – grabe, wo Du stehst. Wir schlagen deshalb vor, uns und unsere Arbeit auf die späten 1960er Jahre, die frühen 1970er Jahre zu konzentrieren. In diesem knappen Jahrzehnt endete die Nachkriegszeit, begann ein anderes Leben. Eines, das für die große Mehrzahl weniger Armut, mehr Sicherheit und größere Freiräume bot, bei dem aber zugleich noch nicht vergessen wurde, dass es weiterhin Armut, Unsicherheit und systematische Benachteiligungen gab, und keinen Grund für bräsige Selbstzufriedenheit.
Der Zeitraum 1966-1973 ist für die meisten Mitglieder Teil ihres Lebens, hat sie zutiefst geprägt. Viele, viele Braunschweiger können noch über diese Zeit berichten, wollen es sicher auch gerne. Der Zeitraum war widersprüchlich, noch vielfach gezeichnet von der Restauration, dem langen Schatten
des Autoritären. Doch er war auch getragen von den Versprechungen eines Wohlstandes für alle (ja, für alle!), für mehr Demokratie, für ein Leben nach eigener Façon, ohne Gängelei und Dünkel.
Wir schlagen vor, unterschiedliche Themen dieser Zeit zu erkunden und dafür eine Öffentlichkeit in Braunschweig zu suchen. Wir wollen dies tun in den bewährten und durchaus erfolgreichen Formen, also mit Ausstellungen, Spaziergängen, mit Publikationen. Wir wollen zugleich aber die neuen Medien nutzen, einen Blog einrichten, auf dem jeder etwas beitragen kann, der mitmachen möchte.
Dazu brauchen wir fundierte Quellen: Wir werden die gängigen Archive durchforsten, wohl wissend, dass Andere Geschichte dort nicht im Mittelpunkt stand und steht. Wer werden uns die lokalen Zeitungen anschauen, uns dadurch vielen vergessene Ereignisse und Alltagsnöte vergegenwärtigen. Wir werden vor allem aber mit Mitbürgern und Mitbürgerinnen sprechen, sie ermuntern uns mehr über ihre (und damit unsere) Geschichte zu berichten, uns Fotoalben zu öffnen und uns ungeschminkt über das Leben in dieser Übergangszeit zu unterhalten. Die Quellenbestände in den Archiven und den Zeitungen legen uns bereits Themen nahe, die wir systematischer angehen und entfalten können:
• Die Arbeit und der Lohn, beides in der Rezession 1966/67 erstmals, in der Ölkrise von 1973 dann akut bedroht.
• Das bessere Wohnen, begünstigt durch massiven sozialen Wohnungsbau, durch Baugenossenschaften, durch autogestützte Vororte mit mehr Platz und mehr Grün.
• Der beherzte Kampf gegen den Bildungsnotstand, nicht nur durch Hochschulbau, sondern durch moderne und sozial durchlässigere Schulen, durch neue Formen der Berufsbildung und des sozialen Aufstiegs.
• Die wachsende Selbstorganisation einer aufmüpfigen Zivilgesellschaft, von Frauengruppen, von rückfragenden Protestanten, von Autonomen und Homosexuellen, von der Naturschutz- und Umweltbewegung.
• Die Selbstverständlichkeiten von Arbeiter- und Angestelltenschaften nahmen ab, auch die ethnische Zusammensetzung veränderte sich. Sozialpartnerschaft konnte dies kaum mehr verdecken, Verteilungskämpfe waren Teil des Alltags, ebenso ein gewandelter Rassismus.
• Die Wunschwelten des Konsums, mit den prosperierenden Warenhäusern im Mittelpunkt, mit Supermärkten und Einkaufscentern, mit Urlaubsreisen und Freizeitspaß.
• Der, die, das… Es gibt viel zu ergänzen, je nach Interesse, je nach möglichem Zeitaufwand.


Wir laden alle Mitglieder ein, über all dies (und Ihre eigenen Ideen) am 6. Dezember 2021, 17 Uhr, in der Gedenkstätte Schillstraße zu diskutieren. Und dann sollten wir vor allem das zu tun, was zahlreiche Mitglieder seit 1985 immer wieder getan haben: Die Schaufel in die Hand nehmen und loslegen.
Dr. Uwe Spiekermann